Bis ins 18. Jahrhundert existierte in der Senke zwischen Seeburg und Ebergötzen ein ca. 15 Hektar großes Gewässer: der Westersee. Zusammen mit dem Seeburger See und dem Luttersee (heute Lutteranger, 1989 wiedervernässt) bildete er ein Ensemble aus drei Feuchtgebieten. In der Folgezeit verlandete er. Übrig blieb ein Niedermoor, das bis weit ins 20. Jahrhundert entwässert und, bis auf kleine Reste, in Weide- und Ackerland verwandelt wurde.
Nach jahrelangen Vorarbeiten begann 2002/2003 die Renaturierung des Gebiets. Der Landkreis Göttingen hatte mit 105 Hektar einen Großteil der Flächen angekauft. Der Bachlauf der Aue, die seit jeher die Senke durchfließt, wurde streckenweise in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt, Entwässerungsgräben verschlossen. An der tiefsten Stelle entstand schnell ein Gewässer, das zusammen mit dem benachbarten „Pfuhl“, der von einem weiteren Bach, der Retlake, gespeist wird, eine Einheit bildet.
Nach dieser Naturschutz-Großtat entwickelte sich der Seeanger schnell zum mit Abstand artenreichsten und wertvollsten Feuchtgebiet im Landkreis Göttingen. Besonders auf Vögel übt er – in einer Landschaft, die extrem arm an Feuchtgebieten mit Flachwasserzonen ist – eine magische Anziehungskraft aus. In manchen Frühjahren wimmelt es von Watvögeln (Limikolen), die auf dem Heimzug in ihre skandinavischen und nordasiatischen Brutgebiete rasten. Darunter befanden sich Ausnahmegäste wie Terekwasserläufer, Graubrust-Strandläufer, balzende Doppelschnepfen und andere Vögel, die auch versierte Vogelkundler zuvor nur dem Namen nach kannten. Als Rastgebiet für Limikolen im tiefen Binnenland kommt dem Seeanger mittlerweile eine niedersachsenweite Bedeutung zu. Vereinzelte Bruten und Brutversuche landes- und bundesweit hochbedrohter Arten wie Tüpfelsumpfhuhn, Knäkente und Bekassine unterstreichen die Bedeutung des Gebiets. Der Seeanger ist derzeit der einzige Brutplatz des Kiebitz’ und der Schnatterente im Landkreis Göttingen. Als neue Brutvogelarten haben sich Blaukehlchen und Schwarzkehlchen etabliert. Sumpfrohrsänger, Feldschwirl und Fitis (mit dem selten gewordenen Kuckuck als Brutparasit) sind Vogelarten mit überregional negativem Bestandtrend, die hier noch eine Heimstatt finden. Das Loblied ließe sich – gestützt auf knapp 50.000 Datensätze, die der Arbeitskreis Göttinger Ornithologen in 15 Jahren zusammentragen konnte – noch über Seiten fortsetzen. Kurzum: Der Seeanger ist ein wahres Juwel in einer Landschaft, die weithin von der industriellen Landwirtschaft geprägt ist.
Heute ist der Seeanger ein Naturschutzgebiet (bis jetzt leider ohne entsprechende Hinweisschilder). Doch nicht nur das: Er war von Anfang an auch als Rückhaltebecken für Sedimente geplant, um die Aue und den Seeburger See, in den der Bach mündet, von nährstoffreichen Ablagerungen aus den umliegenden Ackerflächen zu entlasten. Mittlerweile erfüllen die wachsenden Röhrichtbestände an den Gewässerufern, die in diesem Sommer leider durch intensiven Viehverbiss gelitten haben, eine wichtige Filterfunktion. Auch im Hochwasserschutz spielt der Seeanger eine positive Rolle und hat in manchen Jahren die Einwohner von Seeburg, besonders die Anlieger der Aue, vor größeren Kalamitäten bewahrt.
Eigentlich eine Erfolgsgeschichte – sollte man meinen. Seit dem Frühjahr 2018 ist das Gebiet jedoch (wieder einmal) in den Fokus geraten. Vordergründig geht es um den Seeburger See, der schon seit langem von hohen Phosphat- und Nitrateinträgen gebeutelt wird. Die Kreistagsgruppe Linke/Piraten/Partei und ein fraktionsloser Abgeordneter haben das „Auge des Eichsfelds“ für sich entdeckt und Vorschläge entwickelt, wie ihm zu helfen sei. Neben sinnvollen, wenngleich leider ziemlich wirklichkeitsfremden Maßnahmen wie die Ausweitung des Naturschutzgebiets Seeburger See auf die angrenzenden Ackerflächen und deren Rückverwandlung in Grünland wird auch das Ausbaggern der dicken Sedimentschicht ins Gespräch gebracht. Darüber hinaus – und jetzt wird es interessant – soll in Zukunft weniger Wasser durch den Seeanger fließen, um die Aue und damit den Seeburger See zu entlasten. Dieses Ansinnen wird seit einiger Zeit von einem Seeburger Landwirt propagiert, der als Stichwortgeber für die auf diesem Themenfeld unerfahrenen Kommunalpolitiker gelten kann. Die Argumentation lautet etwa wie folgt: Weil sich das Wasser im Seeanger in den Sommermonaten erwärmt, führt dessen Zufluss über die Aue zur Erwärmung des Seeburger Sees, Algenblüte und Fischsterben sind die Folgen. Stimmt das? Aktuelle Messungen einer Arbeitsgruppe der Uni Göttingen um Dr. C. Heim haben ergeben, dass die Wassertemperatur der Aue vor ihrer Einmündung in den Messmonaten April bis Oktober immer um etliche Grade niedriger lag als die des Sees. Im März waren die Temperaturen mit jeweils ca. 10°C ungefähr gleich. Damit ist eine direkte Erwärmung, die zudem wegen der Größe des Sees nur sehr lokal wäre, nicht gegeben.
Das letzte nennenswerte Fischsterben im See fand 2006 statt, als mehr als 1000 Aale an einem spezifischen Herpesvirus verendeten. Mit der oben geschilderten (Schein-)Problematik hatte das nichts zu tun. Massensterben von Weißfischen in den Frühjahren bis 2013 kamen dadurch zustande, dass sich die Tiere in den flachen, zur Dekoration künstlich angelegten Gräben um das Restaurant „Graf Isang“ verirrten, nicht mehr hinausfanden und letztlich zu Tausenden an Sauerstoffmangel starben. Später konnte das Sackgassen-Problem behoben werden. Auch hier passt das Drehbuch nicht.
Auch die kurzzeitige Massenvermehrung von Cyanobakterien („Blaualgenblüte“), die 2018 zum Badeverbot führte, kann man dem Seeanger schwerlich anlasten. Sie erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem in diesem extremen Dürresommer kaum Wasser aus dem (weithin ausgetrockneten) Seeanger in den See gelangte. Blaualgen waren in Deutschland auch an etlichen anderen Gewässern ein Problem.
Das Gleiche betrifft den Sauerstoffgehalt: Er ist bereits am Badesteg des Sees erheblich höher als in der ca. 40 Meter entfernten Auemündung. Beispiel: Der Sauerstoffgehalt betrug im August 2017 nahe der Auemündung (gemessen in einiger Entfernung an der Brücke am Rundweg) magere 0,22 mg/l, während am Badesteg immerhin 10,45 mg/l ermittelt wurden. Der vermeintlich negative Einfluss des Seeangers auf Seetemperatur und Sauerstoffgehalt ist daher ein Trugbild, nichts weiter.
Ähnliches gilt auch für den Eintrag von Nitraten und Phosphaten aus dem Seeanger, der als einer der Hauptgründe für die ökologische Misere des Sees dargestellt wird. Zwar wird manchmal, vor allem nach Starkregenereignissen, vermehrt phosphatreiches Wasser aus Aue und Retlake in den See geleitet, doch ist diese Menge viel zu gering, um die Gesamtbelastung des Sees signifikant zu erhöhen. Zum einen ist die Aue nur einer von mehreren Zuflüssen von intensiv gedüngten Äckern, zum anderen ist der Wasserkörper des Sees für eine gravierende Belastung durch einen einzelnen Zufluss viel zu groß. Das konnte bereits 2006 auf einer Veranstaltung in Bernshausen von einem Experten des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) eindrucksvoll mit Messdaten belegt werden. Auf dem Seegrund lagert mittlerweile eine jahrzehntealte, meterdicke Sedimentschicht, die, besonders an der Bernshäuser Seite, faktisch biologisch tot ist. Wäre, könnte man ebenso hypothetisch zurückfragen, die Situation ohne den Seeanger, der weitaus mehr phosphathaltige Sedimente zurückhält als er in dem einen oder anderen feuchten Jahr zeitweise freigibt, möglicherweise noch schlechter?
Es liegt auf der Hand, dass (wieder einmal) der Seeanger die bewährte Funktion des Sündenbocks erfüllen soll. Doch damit nicht genug: Im Frühsommer 2018 schritten drei Personen aus dem oben genannten Spektrum zur Tat und nahmen in krasser Selbstermächtigung Manipulationen am zentralen Zulauf von der Aue in den Seeanger vor, um die Durchlaufmenge zu reduzieren. Mindestens ebenso skandalös wie diese kriminelle Aktion in einem Naturschutzgebiet ist das Verhalten des Landkreises, der bis dato weder Anzeige erstattet (die Namen der Leute sind bekannt!) noch die Manipulation rückgängig gemacht hat.
Es ist bezeichnend, dass in den Verlautbarungen der Seeretter im Zusammenhang mit dem Seeanger das Wort „Naturschutzgebiet“ niemals auftaucht. Zu einem Runden Tisch Ende September in Bernshausen wurden Naturschutzorganisationen und Fachgruppen wie unser Arbeitskreis gar nicht erst eingeladen. Ist das wirklich nur pure Ignoranz oder hat das Methode?
Wie auch immer: Eine Reduzierung der Wassermenge im Seeanger würde das Naturschutzgebiet und seine Schutzziele schwer beeinträchtigen. Die Gesetzeslage spricht da eine deutliche Sprache. In diesem Zusammenhang muss leider auch ein Bauprojekt Erwähnung finden, das der Landkreis demnächst in Auftrag geben will: Ein Weg im zentralen Bereich des Seeangers soll um einen halben Meter aufgeschüttet werden, damit Rinderhalter bequemer zu ihren Tieren gelangen können. Damit würde aus dem Weg, der in manchen Jahren stellenweise überflutet wird (aber für Trecker immer noch passierbar bleibt) ein Damm, der die Feuchtwiesen zerschneidet. Resultat wäre ein Trockenfallen weiterer Flächen. Trockene Flächen beherbergen mehr Mäuse als feuchte. Die Folge: Prädatoren werden angelockt, die zwischen einer Maus und einem jungen Kiebitz keinen Unterschied machen. Prädation ist ohnehin schon ein großes Problem für die ansässige Vogelwelt. So wichtig und unabdingbar die Beweidung zum Erhalt von Offenflächen ist: Hier soll den Partikularinteressen von Landwirten Vorrang gegenüber den Naturschutzzielen eingeräumt werden, wohlgemerkt auf Flächen, die dem Landkreis gehören und die im Rahmen des Vertragsnaturschutzes bewirtschaftet werden. Zudem ist von einer gesetzlich vorgeschriebenen Verbandsbeteiligung von Trägern öffentlicher Belange (zu denen auch Naturschützer zählen) an dem Bauvorhaben bis dato nichts zu hören.
Aus alldem ergibt sich: Eine Reduzierung der Wassermenge im Seeanger darf es nicht geben, erst recht nicht aus einer Motivation, die fragwürdig ist und sich letztlich einer rationalen Bewertung entzieht.
Unsere Forderung gewinnt auch vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass der Seeanger Teil eines FFH-Gebiets ist, für das ein Verschlechterungsverbot gilt. Auch hier dürfte die Rechtslage klar sein.
Für den Arbeitskreis Göttinger Ornithologen:
H.H. Dörrie
Prof. Dr. M. Göpfert
F. Helms
Dr. V. Hesse
K. Jünemann
S. Paul
Dr. M. Siebner