Zwerggänse in Süd-Niedersachsen

Vier Tage nur hat es gedauert. Am 12. Februar 2023 erschien auf dieser Homepage unsere aktualisierte Artenliste für Südniedersachsen. Mit 328 nachgewiesenen Vogelarten schien wenig Platz nach oben, vielleicht mit Ausnahme von Mega-Raritäten. Am 16. Februar kam als Neuzugang die Zwerggans (Anser erythropus) hinzu – dabei hatte sicherlich niemand bemerkt, dass diese Art in der Liste fehlt. Eine südniedersächsische Zwerggans-Meldung von 2013 wurde von der Avifaunistischen Kommission Niedersachsen und Bremen nicht anerkannt, und ein Vogel aus dem Dezember 2014 scheint dort nicht gemeldet [1]. Letzterer Vogel hatte sich acht Rostgänsen angeschlossen (siehe Total normal – der Vogelwinter 2014/15 in Süd-Niedersachsen) – offenbar ein Ausbüxerensemble. Die Nichtlistung der Zwerggans war also kein Fauxpas der vier Verfasser; listbare Wild-Zwerggänse gab es noch nicht.

Am 16. Februar landeten zwei Zwerggänse mittags auf dem Seeburger See, in einem Trupp von 300 Blässgänsen. Vom Isang-Schwimmbad aus habe ich die vor dem Auebereich badende Gänseschar durchgesehen, 12 Tundrasaatgänse waren dazwischen, Höckerschwan und Graugänse waren zuvor schon dort. Das Blässgänse-Zählen ging ungewohnt fix: fünf, zehn, fünfzehn, wow! Ein Zwerggans-Auge schaut mir ins Spektiv. Gelber Lidring trotz Gegenlicht erkennbar, Lehrbuch-konforme weiße Blässe bis hoch auf die Schläfe, lange, den Schwanz deutlich überragende Flügel. Eine zweite Zwerggans schwimmt direkt daneben, bei ihr reicht die Blässe nur hoch bis zur Stirn. Sofort nach ihrer Entdeckung verschwinden die beiden im Gänse-Badegewimmel, zeigen sich nochmal kurz und fliegen mit den Blässgänsen nach Osten in Richtung Bernshausen ab. Auch ich muss fort, aber Mathias Siebner ist schon auf dem Weg, nach kurzer Rücksprache wird Bernshausen sein Ziel. Dort findet Mathias die Blässgänse mit ihren zwei Zwerggans-„Followern“ wieder, auf Grünland. Hinter einem Erdhügel verschanzt wartet Mathias, bis die beiden sich nähern und ihre Beine zeigen – beide Vögel sind unberingt. Jakob Demmer, Julian Priesnitz, Marie Burdorf und Dietmar Radde stoßen später dazu – die Zwerggans ist nicht nur für Süd-Niedersachsen neu, sondern auch für viele Süd-Niedersächsinnen und –sachsen. Fehlende Beringung und Blässgans-Vergesellschaftung indizieren, dass die zwei Zwerggänse Wildvögel sind. Auch sichern die beiden viel und wirken sehr scheu.

2 Zwerggänse auf einer Wiese in der Nähe vom Seeburger See.
Abbildung 1: Die beiden Zwerggänse am Entdeckungstag bei Bernshausen. Beide sind unberingt. Halsriffelung und gerade Mantelfeder-Spitzen weisen die Vögel als Altvögel aus. Auffällig ist die unterschiedliche Blässen-Ausdehnung, die beim rechten Vogel eben gar nicht auffällig ist. Foto: Mathias Siebner

Vom 16. Bis zum 18. Februar verweilen die beiden Blässgans-„Kumpane“ in der Bernshäuser Feldflur, dann ziehen sie mit ihren Vettern in den nordwestlich gelegenen Seeanger um. Abgesehen von einer kurzen Bernshausen-Visite verbleiben sie dort bis zum 28. Februar. An diesem Tag fliegen sie mit ca. 30 Blässgänsen auf aus dem „Pfuhl“ – und fort sind sie. Während ihres 12-tägigen Aufenthalts haben die beiden Zwerge viele Besucher gehabt – und oft der Verzweiflung nahe gebracht. Selbst mit dem Wissen, dass die beiden unter den Blässgänsen sitzen, waren sie nur extrem schwer zu finden. Die im Vergleich zur Blässgans etwas geringere Größe half nicht bei der Suche – kleine Blässgans-Weibchen können zwergenhaft wirken. Auch gab es unter den Blässgänsen etliche Individuen mit Blässe bis hoch auf den Scheitel, und eine solche zeigte eine der beiden Zwerggänse ja eben nicht. Die etwas dunkleren Hälse und Köpfe halfen, und insbesondere die gelben Lidringe, wenn man diese denn erkennen konnte. Besonders auf größere Entfernung sah man diese fast nicht. Verwirrend kamen die hellen Augenlider schlafender Blässgänse hinzu, und viele Gänse guckten schlichtweg weg oder wurden von Nachbarinnen verdeckt. Eine gute Suchstrategie war, nach Zweiergruppen Ausschau zu halten, da die beiden Zwerggänse immer zusammenblieben. Schliefen sie nicht gerade, watschelten sie hintereinander, die Köpfe am Boden in Pfeifenten-Manier, und standen sie still, wirkten sie gedrungen, mit Kinderkopf, kurzem Hals und dicker Brust. Hatte man die beiden Watschler endlich gefunden, musste man sich unbedingt Landmarken merken, was in buschlosem Grünland nicht einfach ist. Guckte man kurz weg und fand den gemerkten Grasbüschel nicht wieder, konnte die Suche von vorne beginnen.

Die zwei Zwerggänse im Seeanger.
Abbildung 2: „Trautes Glück“. Wie häufig sichert der Vogel mit der größeren Blässe, während der andere Vogel schläft oder frisst. Foto: Bernd Riedel

Beide Zwerggänse waren adult (Abb. 1) und, ihrem Verhalten nach, offensichtlich verpaart (Abb. 2). Welcher Vogel das Weibchen und welcher das Männchen war, ist nicht ganz klar. Gänseweibchen sind im Mittel kleiner als Männchen, aber der Größenunterschied der beiden Zwerggänse schien höchstens marginal (Abb. 1). In diesem Merkblatt lernen wir, dass Zwerggans-Weibchen im Vergleich zu Männchen eine etwas kleinere Blässe und einen etwas flacheren Vorderkopf zeigen. Bei unserem Paar war die Blässen-Ausprägung ja sehr unterschiedlich, der Vogel mit der ausgedehnteren Blässe hatte allerdings den flacheren Vorderkopf (Abb. 1). Dennoch war dieser Vogel vermutlich das Männchen, denn er posierte häufig, sicherte mehr und schien aggressiver – mehrfach ließ sich beobachten, wie „er“ mit vorgerecktem Hals auf eine (zu) nahe Blässgans zulief und diese recht biestig vertrieb. Auch rief er mitunter mit aufgerichtetem Kopf – die schrillen „kiu-kiu“ Rufe waren aus dem Blässgans-Gekicher gut rauszuhören.

Die ersehnte „Megararität“ ist die Zwerggans vermutlich nicht, zumindest für Kanadakleiber-verwöhnte deutsche „Birder“. Dafür gibt es zu viele ausgerissene Individuen, die ihre neu gewonnene Freiheit auf Parkteichen genießen. Diese handzahmen Brotkrumenfresser und ausgewilderten Exemplare verdecken die traurige Tatsache, dass die Zwerggans in Wirklichkeit erschreckend selten ist [2]. Anders als beispielsweise der Kandakleiber ist die Zwerggans, global gesehen, keine häufige Art mit gewaltigem Verbreitungsareal. Von ihr gibt es nur noch winzige versprenkelte Restvorkommen, zwischen Nord-Skandinavien und Ostsibirien, mit einem kläglichen Weltbestand von gerade mal 24 bis 40 tausend Vögeln. Etwa die Hälfte dieses Häufchens entfällt auf die West-Paläarktis, vornehmlich Westrussland – in Fennoskandien gab es um 2020 nur noch grob 100 Vögel, mit 20-25 Brutpaaren in Norwegen, 0-5 in Finnland und 15-25 in Schweden, Letztere aufgrund von Wiederansiedlungs-Projekten. Im Rahmen vor allem schwedischer Auswilderungsprojekte wurden handaufgezogene Zwerggänse Nonnengänsen untergeschoben, die mit ihren Zieheltern in deren Überwinterungsgebiete in den Niederlanden ziehen. Auch wurden Zwerggänse mit Leichtflugzeugen an den Rhein dirigiert. Bunt beringte Vögel aus diesen Projekten werden regelmäßig in Deutschland gesichtet, meist (aber nicht nur) im Westen (Abb.4), oft in Nonnengans-Trupps [3]. Neben diesen Projektvögeln verschlägt es gelegentlich Vögel der fennoskandischen Wild-Population nach Deutschland, und auch russische Wildvögel können von Blässgänsen auf ihrem Zug nach Deutschland mitgerissen werden [2-4].

Da unsere beiden Zwerggänse unberingt waren, ist ihre Herkunft ungewiss. Im Prinzip könnte es sich um wilde Nachkommen aus Auswilderungsprojekten handeln. Ausgeschlossen ist das nicht, die Vergesellschaftung mit Blässgänsen spricht allerdings auch nicht gerade dafür. Gesellschaft, fehlende Ringe und offensichtliche Scheu scheinen eher auf Mitglieder der kleinen fennoskandischen Wildpopulation hinzudeuten, oder westrussische Wildvögel. Wie auch immer, die beiden liegen im Trend. Obwohl Zwerggänse durch Abschuss, Freizeitaktivtäten, Prädation z.B. von Seeadlern und Lebensraumverlust immer seltener werden, besuchen sie ausgerechnet Deutschland immer öfter. Diese seltsame Tendenz kann man per Mausklick erkennen, wenn man alle auf ornitho.de erfassten Zwerggans-Daten abfragt (Abb. 3). Die Zahl der Zwerggans-Meldungen pro Jahr stieg seit Einführung der Meldeplattform ornitho.de kontinuierlich, nicht jedoch die Zahl der Meldungen schwedischer Projektvögel. Die überraschende Zunahme bleibt erkennbar, wenn auch weniger deutlich, wenn man die Datenbankabfrage auf unberingte Vögel beschränkt, und auch Meldungen von Familien-Verbänden gibt es immer öfter.

Abbildung 3: Anzahl der Zwerggansmeldungen auf ornitho.de. A) Gesamtzahl Meldungen/Jahr. B) Sucheinschränkung mit Textwortsuche „projekt“. C) Sucheinschränkung mit Textwortsuche „unberingt“. D) Sucheinschränkung mit Textwortsuche „familie“

Unberingte Vögel und Familienverbände finden sich vermehrt im Osten (Abb. 3), und aus Deutschland gibt es Überwinterungsnachweise [3], obwohl das Gros west-paläarktischer Zwerggänse zur Überwinterung ans Schwarze Meer und ans Kaspische Meer, Iran und Azerbaijan fliegt. Möglicherweise ist der Langstreckenzieher dabei, ähnlich wie die Rothalsgans neue Überwinterungsräume zu erkunden, eventuell ja auch bei uns. Überwinterungsnachweise aus Niedersachsen gibt’s wohl noch nicht [3], und ob unsere beiden überwintert haben, wissen wir nicht. Gut möglich, dass sich die beiden schon länger in unserer Region aufhielten, bevor sie sich entdecken ließen. Bereits ihr 12-tägiger Aufenthalt ist schon bemerkenswert – In Niedersachsen bleiben Zwerggänse meist nur ein, zwei Tage vor Ort [4]. Offenbar ist unsere Zwerggans-Willkommenskultur ziemlich saumäßig. Obwohl geschützt, werden Zwerggänse illegal als vermeintliche Blässgänse abgeknallt. In der West-Paläarktis trifft dieses Schicksal jährlich 1500 bis 3000 Vögel [2], das sind 20-30% der Restpopulation (!).

Abbildung 4: Karte aller auf ornitho.de erfasster Zwerggansmeldungen (Stand 13.03.2023) (rote Symbole). Links: unberingte Vögel (schwarze Symbole, Sucheinschränkung „unberingt“). Rechts: Vögel aus Auswilderungsprojekten (schwarze Symbole, Sucheinschränkungen „projekt“ sowie „schwed“) und Gefangenschaftsflüchtlinge (blaue Symbole, Sucheinschränkungen „gefangenschaftsflüchtling“ sowie „escape“). Gelbe Pfeile: „Unsere“ Vögel. Der rote Punkt schräg drüber betrifft die vermeintliche Ausreißerin von 2014

Auch gibt es selbst im grünen Niedersachsen immer weniger Grünland, zumal in Gewässernähe und störungsarm. Sicher kein Zufall, dass unsere beiden Gänse ausgerechnet an einem Samstag in den Seeanger geflüchtet sind, wenn es um den Seeburger See von Wochenend-Ausflüglern wimmelt. So richtig zur Ruhe kamen die beiden Vögel aber auch im Seeanger nicht. Mindestens einmal wurden die Gänse dort auf ein benachbartes Feld verscheucht (Abb.5) – sofort kam der Landwirt mit dem Auto rangebraust und hat die Gänse hochgemacht. Bleibt nur zu hoffen, dass die beiden Zwerge dies ihrem Zwergenvolk nicht weitererzählen – sofern sie unserer Region schrotlos entkommen konnten.

Die zwei Zwerggänse auf einem Acker unter vielen vielen Blässgansen.
Abbildung 5. Aus Seeanger auf Nachbarfeld geflüchtete Gänse. Wer sie nicht finden kann: Die beiden Zwerggänse sind vorne links. Foto: Martin Göpfert

Gedankt sei all den hartgesottenen Beobachterinnen und Beobachtern, die, Wind, Regen und Schnee trotzend, mitgeholfen haben, den Zwerggans-Aufenthalt zu dokumentieren.
Martin Göpfert

Literatur
[1] Kunze H. u.a. (2019). Seltene Vogelarten in Niedersachsen und Bremen 2012-2017 – 5. Bericht der Avifaunistischen Kommission Niedersachsen und Bremen (AKNB). Vogelkdl. Ber. Niedersachs. 47, 1-82
[2] Krukenberg H. (2014). Zeit zu handeln: kurz vor zwölf für die Zwerggans. Der Falke 61, Juni 2014, 20-23
[3] Mooij J.H., Heinicke T. (2007). Neue Erkenntnisse zum Auftreten und Schutz der Zwerggans Anser erythropus in Deutschland. Charadrius 43, 171-184
[4] Krüger T., Kruckenberg H. (2011). Die Zwerggans Anser erythropus als Gastvogel in Niedersachsen: Vorkommen, Gefährdung und Schutz. Vogelkdl. Ber. Niedersachs. 42, 89,110