Eine Zwergammer zu Gast im Solling

Mitte Februar ist aus ornithologischer Sicht ein eher ruhiger Abschnitt im Jahr. Es ist die Zeit, zu welcher sich avifaunistisch Begeisterte an prächtig gefärbten Entenerpeln erfreuen, die Liste der gefiederten Futterhausbesucher gepflegt oder in kalten, dunklen Nächten auf balzende Eulen gehofft wird. Die ersten zurückkehrenden Feldlerchen und Stare zeigen bereits an, dass der Frühjahrszug in den Startlöchern steht, wirklich viel Neues ist aber bekanntermaßen noch nicht zu erwarten. Vor allem Kleinvogelenthusiasten kann es einiges an Überwindung kosten, das heimische Wohnzimmer zu verlassen und draußen nach Interessantem zu suchen.

Dass es sich trotzdem lohnen kann, offenbarte sich beispielhaft am 13. Februar 2022. An diesem Tag nämlich wurde nahe dem Örtchen Mackensen im Landkreis Northeim eine Zwergammer (Emberiza pusilla) entdeckt, ein sowohl aus regionaler als auch phänologischer Sicht bemerkenswerter Fund. Die südniedersächsischen Beobachter konnte diese Meldung zunächst jedoch nicht von den warmen Kaminen weglocken. Schließlich ist es draußen kalt, der Fundort weit entfernt und der Vogel bestimmt sowieso schon wieder weg. Diese Einstellung änderte sich etwa einen Monat später. Am 11. März wurde die Ammer von derselben Person an gleicher Stelle erneut beobachtet. Und nun wollten es sich viele ornithologisch Begeisterte der Umgebung doch nicht nehmen lassen, die Zwergammer zu bestaunen. In den folgenden Tagen zog sie die Aufmerksamkeit dutzender Ornithologinnen und Ornithologen auf sich, welche zumeist mit sehr schönen Beobachtungen des wenig scheuen Vogels belohnt wurden.

Vielfach konnte er aus wenigen Metern Entfernung bei der Nahrungssuche auf einem Feldweg oder bei der Rast in den angrenzenden, noch laubfreien Sträuchern betrachtet werden. Die typischen Merkmale der Art, eine mit schwarzer Strichelung durchsetzte helle Unterseite, die auffälligen schwarzen Streifen auf dem Rücken und vor allem das charakteristisch rostrot gefärbte Gesicht mit hellen Augenringen sowie die beiden dicken schwarzen Scheitelstreifen, ließen sich hervorragend studieren. Eine zehntägige Kältewelle im Februar mit Nachttemperaturen von bis zu -25°C überstand das Vögelchen unbeschadet. Am 20. März wurde die Ammer zuletzt auf ornitho.de gemeldet. Wie lange sie danach noch vor Ort geblieben ist, bleibt unklar.

Abb. 1: Die typischen Merkmale einer Zwergammer präsentierte der Mackensener Vogel den angereisten Ornis bereitwillig. Foto: M. Siebner

Die Entdeckung der Zwergammer dieses Jahr stellt, nach einem Vogel im Herbst 1974, den zweiten Nachweis für Südniedersachsen dar. Gleichsam ist sie die erste Zwergammer, welche einer Vielzahl von Beobachtern die Möglichkeit bot, einen Blick auf diesen kleinen Gast aus der Tundra zu erhaschen. Dies liegt einerseits zweifellos an der guten digitalen Vernetzung heutiger Vogelbegeisterter und der schnellen und präzisen Weiterleitung von bemerkenswerten Beobachtungen. Zudem hielt die Zwergammer für viele Tage ein fest abgrenzbares, regelmäßig abgeflogenes Winterrevier von ca. zwei Hektar Größe besetzt, mit einem Feldweg als Zentralachse. Die Zwergammer am 16. September 1974 bekam leider nicht die Möglichkeit zu einem längeren Aufenthalt in freier Wildbahn. Im Zuge eines Rohrammer-Fangeinsatzes an den Klärteichen der damaligen Zuckerfabrik bei Nörten-Hardenberg verfing sie sich in einem der Netze der Beringer. Im starken Kontrast zur heutigen Beringungspraxis entschieden sich die Fänger gegen das Freilassen dieser Rarität. Stattdessen landete das Tier in einer Voliere. Wie lange es dort sein Leben fristen musste ist unbekannt. Mit der zweiten Beobachtung der Zwergammer gibt es für Südniedersachsen nun sowohl einen Nachweis auf dem Wegzug als auch einen Überwinterungsnachweis, eine Beobachtung, die bisher nur in wenigen deutschen Landkreisen gelungen ist.

In Deutschland ist die Zwergammer ein alljährlicher, aber seltener Gast. Wie bei vielen weiteren Seltenheiten auch, kommen die meisten Beobachtungen von Deutschlands Raritäten-Hotspot Helgoland in der Deutschen Bucht und den Inseln im Wattenmeer. Beobachtungen im Binnenland stellen eher die Ausnahme dar. Bis zum Ende des Jahres 2018 wurden 198 Zwergammernachweise von der Deutschen Seltenheitenkommission bzw. der Deutschen Avifaunistischen Kommission (DAK) anerkannt. Seit 2019 müssen Zwergammerbeobachtungen auf Grund gestiegener Nachweiszahlen nicht mehr bei der DAK gemeldet werden. Der allergrößte Teil der Beobachtungen in Mittel- und Westeuropa gelang auf dem Wegzug zwischen Mitte September und Ende Oktober, wobei die ersten beiden Oktoberwochen die Hauptdurchzugszeit zu sein scheinen. Beobachtungen im Winter oder im Frühjahr waren lange die Ausnahme. In Deutschland gab es bis einschließlich 2017 nur drei Winterbeobachtungen (Dezember bis Februar), die von den zuständigen Seltenheitenkommissionen anerkannt wurden. Bis einschließlich 2021 wurden im Winter an sechs weiteren Orten Zwergammern auf ornitho.de gemeldet. Eine ähnlich lange Verweildauer wie der Mackenser Vogel zeigte nur ein Wintergast vom 11. Januar bis 25. Februar 2020 am Drachenfels bei Bad Honnef/NRW.
Das Verbreitungsgebiet der Zwergammer erstreckt sich von Nordskandinavien im Westen, über den gesamten Norden Russlands bis an die Pazifikküste im Osten. Im Nordosten Chinas existiert ein weiteres isoliertes Brutvorkommen. In ihrem Brutareal besiedelt sie vor allem die Tundra. Eine dichte Krautschicht auf feuchtem Boden sowie ein sehr lückiger Baumbestand werden von ihr bevorzugt. Der europäische Brutbestand wird auf drei bis acht Millionen Paare geschätzt, wobei der allergrößte Teil im europäischen Bereich Russlands vorkommt. Für Finnland, Norwegen und Schweden werden bis zu 40.000 Brutpaare angenommen. In den letzten Jahrzehnten scheint es zu einer Zunahme der Zwergammer in Europa gekommen zu sein.

Abb. 2: Leicht zu übersehen, die Zwergammer. Foto: M. Siebner

Das Hauptüberwinterungsgebiet erstreckt sich über weite Teile Südostasiens, von Indien bis Taiwan. Die hier überwinternden Vögel ziehen aus ihrem Brutgebiet im Herbst in südöstliche Richtung ab. Dies ist in der Hinsicht interessant, als dass die durch Mittel- und Westeuropa fliegenden Zwergammern in Richtung Südwesten wandern. Daher nehmen immer mehr Ornithologinnen und Ornithologen an, dass sich eine neue Überwinterungstradition, weit entfernt von den bekannten Winterverbreitungsgebieten, entwickelt haben könnte. Damit zeichnet sich ein ähnliches Bild wie bei den ostpaläarktischen Arten Gelbbrauen-Laubsänger (Phylloscopus inornatus) und Spornpieper (Anthus richardi) mit vergleichbarer Verbreitung und Zugphänologie ab. Über das neue Überwinterungsgebiet der Zwergammern ist bisher wenig bekannt. Verweildauern von mindestens 30 Tagen zur Winterzeit wurden entlang der Atlantikküste von Südnorwegen und -schweden über die BeNeLux-Länder, Großbritannien, Italien bis zu den Kanaren nachgewiesen. Ein bestehendes Überwinterungsgebiet wird jedoch in Nordafrika für am wahrscheinlichsten gehalten.

Die Beobachtung der Zwergammer bei Mackensen, einem Dörfchen das vorher wohl kaum ein Vogelbeobachter überhaupt kannte, hat einmal mehr gezeigt, dass es sehr lohnend sein kann, abseits der bekannten ornithologischen Standardgebiete neue Regionen zu erkunden. Der Solling, an dessen Nordrand Mackensen liegt, soll hierfür beispielhaft genannt werden. Dieser bewaldete Mittelgebirgszug im Nordwesten des Bearbeitungsgebietes hat neben der Zwergammer in den letzten Jahren weiterhin eine Kappenammer (Emberiza melanocephala), einen Halsbandschnäpper (Ficedula albicollis) und einen Zwergschnäpper (Ficedula parva) beherbergt.

Erstaunlicherweise wurde die aus dem Südosten stammende Kappenammer am 2. Juni 2021 als erster Regionalnachweis ebenfalls bei Mackensen dokumentiert! Man fragt sich, was bei einer Beobachtungsintensität, wie wir sie an vielen Seen in Südniedersachsen haben, noch so alles an gefiederten Perlen gefunden worden wäre. Und nicht zu vergessen, welcher Erkenntnisgewinn über die dortige Avifauna allgemein einsetzen würde. Natürlich kann nicht jeder entlegene Winkel der Landkreise Göttingen und Northeim im gleichen Maße in hoher Intensität abgedeckt werden. Aber möglicherweise entschließen sich nun doch ein paar Vogelbegeisterte mehr, anstatt als vierte Person die sieben Reiherenten auf dem Göttinger Kiessee zu melden, nach Gebieten Ausschau zu halten, welche bisher sträflich vernachlässigt wurden.

Abb. 3: Orte wie der, den sich die Ammer zum Überwintern ausgesucht hat, finden sich an vielen anderen Stellen im Bearbeitungsgebiet – Also, Augen auf! Foto: M. Siebner

Ole Henning

Quellen:
Beobachtungen auf ornitho.de
Ellwanger, G., Schidelko, K. & D. Stiels (2021): Wintering of Little Bunting in Europe and North Africa. Dutch Birding 43. 453-463.
Deutsche Avifaunistische Kommission (2020): Seltene Vögel in Deutschland 2018.
Riedel, B. (1977): Zwergammer (Emberiza pusilla) im Kreis Northeim. Vogelk. Ber. Niedersachsen.

Abb. 4: Und ein Bild ganz aus der Nähe, von dem wenig scheuen Vogel. Foto: M. Siebner